Ein „Lost Place“ erwacht durch Paul zum Leben

Ich bin zur Zeit eine „digitale Nomadin“, seit Dezember 2020 verbringe ich meine Zeit in Portugal. Alles was ich aktuell zum Arbeiten benötige sind mein Laptop und mein Motorrad – beides habe ich hier und bin somit arbeitsfähig. Ich nutze die „Freizeit“ neben dem Büro, um neue Strecken zu erkunden und interessante Plätze zu besuchen, die unsere Portugaltouren bereichern werden. Die Portugiesen sind unheimlich nett gegenüber Motorradfahrern und es macht sehr viel Freude hier zu sein. Vorbeifahrende Autos zeigen mir einfach nur ein „Daumen hoch“, andere Autofahrer machen Platz und signalisieren „Fahr vorbei“ oder ich werde angesprochen und in nette Gespräche verwickelt. Das ist Portugal und hier fühle ich mich ausgesprochen wohl. Ich habe mittlerweile sehr viele interessante Menschen kennen gelernt und ich versuche diese Momente und Begegnungen hier fest zu halten und darüber zu erzählen.
Es passierte vor 2 Tagen, ich war auf dem Weg zu meinem „Laufstrand“, trotz Lockdown ist Sport erlaubt und ich wollte den Tag für einen ausgiebigen Strandlauf nutzen. Dieses alte Gebäude war mir bereits bei der letzten Anfahrt zum Strand aufgefallen und jetzt, wo die Sonne hineinschien, faszinierte mich das Licht und ich entschied mich diese Augenblicke sofort einzufangen, der Strand läuft ja nicht weg 😊

Ich brachte mein Motorrad in Position und fing an die „Bilder des Tages“ zu knipsen. Ich bemerkte auch, dass vorbeifahrende Autos und Fußgänger mich skeptisch beobachteten. Scheinbar interessiert dieses Gebäude hier niemanden mehr, mich hatte es jedoch in seinen Bann gezogen. Die aufwendig gearbeiteten Azulejos (Keramikkacheln) an der Fassade, von den üblichen, hässlichen Schmierereien abgesehen, übten eine große Faszination auf mich aus. Selbst das kleine Nebengebäude, sprich die Toiletten, war noch vollständig erhalten und die alten Schienen waren im Unkraut versunken. Ich war gefangen in der Atmosphäre, die dieser Ort ausstrahlte und völlig in Gedanken versunken, lies ich meiner Fantasie freien Lauf. In meinen Gedanken kommt ein Zug angerollt, ich höre das Schnaufen der Lok und völlig verzaubert hob ich meinen Arm, um dem Lokführer zu zeigen, ich möchte einsteigen und mitfahren. Das ist üblich in Portugal, eher bei der Straßenbahn, und jeder Tourist, der das nicht tut, wird sich wundern wenn die Bahn einfach weiterfährt.

Ich war völlig gefangen in meiner Träumerei, als mich ein älterer Herr in seinem britischen Akzent von hinten ansprach und fragte, auf welchen Zug ich warte und wo ich hinfahren möchte. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen, zuckte erschrocken kurz zusammen, drehte mich um und schaute in das Gesicht eines Menschen, das voller kleiner Fältchen war, die sein Alter erahnen liesen und vom Leben geprägt wurden. Er hatte scheinbar mein Haltezeichen gesehen und somit antwortete ich ihm spontan „Dahin, wo es kein Corona gibt und wo die Welt in Ordnung ist“. Er lachte herzlich darüber und schon waren wir in einem netten Small Talk verstrickt, der mein Herz berührt hat.

Sein Name war Paul und er geht jeden Tag mit seiner Hündin Diana hier spazieren. Er fing an, mir ungefragt seine Geschichte zu erzählen und ich hörte ihm zu. Ich glaube er war einsam und er hat einfach nur einen Menschen gebraucht, mit dem er sich unterhalten konnte. Als höflicher Mensch hörte ich ihm zu und plötzlich wurde seine Geschichte so spannend, dass ich einfach nur fasziniert war und sehr gern zuhörte.

Paul stammt aus London, er hatte früher eine erfolgreiche Firma, die Schokolade produzierte. Sein Job war hart und viele Jahre hat er sich mit seiner Familie einen Urlaub pro Jahr in Portugal gegönnt, eine Zeit im Jahr, die er von Herzen genießen konnte. Hier an der Algarve ist sein Herz auch hängen geblieben. Der Markt für Süßwaren hatte sich verändert. Die Schokolade mit viel Handarbeit produziert, wurde durch die Industrie-Schokolade verdrängt, der Preis war oft das entscheidende Kriterium. Paul hatte es rechtzeitig geschafft, seine Firma gewinnbringend zu verkaufen. Heute werden dort mittlerweile wieder hochwertige Schokoladen produziert, erzählt er mir voller Stolz. Schokolade mit Fleur de Sal und Piri-Piri. Klingt ein wenig nach Portugal meine ich und er nickt lächelnd seinen Kopf zur Bestätigung.

Nach dem Verkauf der Firma entschied er sich nach Portugal zu gehen, für immer. Dieses Land war seine zweite Liebe, die Kinder waren erwachsen und gehen ihren eigenen Weg. Nun lebt er seit einigen Jahren dauerhaft in Lagos, solche Menschen nennen sich hier nicht Rentner, sie heißen Residenten und sie haben hier ein gutes Leben. Seine Frau ist letztes Jahr verstorben und seitdem dreht er mit seiner Hündin täglich allein die Runde. Er hat sie Diana genannt, weil die so wunderschön und grazil ist, wie einst die Königin Diana, er hat sie geliebt und ihr Tod war für ihn ein schwerer Schicksalsschlag, wie für unzählige Menschen auf dieser Welt.

Der alte Bahnhof ist eigentlich kein schöner Platz erzählt er, die Bemühungen ihn zu verkaufen scheitern stets, ein ständiges auf und ab, so schön, wie er ist, so will ihn dennoch niemand haben. Dabei liegt er so zentral meint er und es liegt wohl an der Vergangenheit. Ich werde neugierig und hinterfrage. Dieser Bahnhof wurde im Jahr 1922 eröffnet, da war die Algarve ein Landstrich, wo Menschen wohnten, die auf eine Bahnlinie angewiesen waren. Es gab kaum Tourismus, die Portugiesen verbrachten gern hier ihren Urlaub, mehr aber nicht. Dennoch gab es diese Bahnlinie und hier in Lagos war der westliche Endpunkt der Algarve-Linie und damit sehr bedeutend für die Menschen hier vor Ort. Was die Portugiesen schon immer gut konnten, waren die wunderschönen Verzierungen an den Fassaden mit ihren „Azulejos“, die Geschichten auf Wände zaubern können. Auch hier gehörten sie dazu und trotz Verfall wirken sie auch mich noch immer wunderschön.

Ich lausche den Erzählungen von Paul und bin gerührt, von all seinem Wissen. Mittlerweile glaube ich, dass er genau weiß, wo er lebt und es genießt den Rest seines Lebens dort zu verbringen, die Freude bei all dem was er mir erzählt ist deutlich in seinen Augen zu erkennen. Ich halte kurz inne und stelle mir gerade in Gedanken die Frage, wo ich den Rest meines Lebens sein möchte? Auf die Schnelle finde ich keine Antwort, weil mich seine Erzählungen schon wieder in ihren Bann ziehen.

Dem alten Bahnhof zollt niemand mehr Beachtung sagt er, die Menschen wollen sich bewegen, sie wollen reisen, sie fliegen und hier ist der letzte Zug vor vielen Jahren abgefahren, ohne Feuerwerk und ohne großen Rummel, es war ein Zug in das Nirgendwo, ganz ohne Rückkehr. Ich spüre die Traurigkeit in seiner Aussage, ich hänge an seinen Lippen mit den Altersfältchen und ich bin im Kopf genau dort, wovon er gerade erzählt.

Ich bin gerührt von dem Gespräch, ich hatte niemals damit gerechnet, dass ein kleiner Fotostopp so eine Begegnung mit sich bringt und in so einer Geschichte endet. In Gedanken versetze ich mich zurück in eine Zeit, wo hier noch das Leben pulsiert hat, wo Menschen aufeinander gewartet haben, wo ein glückliches Winken verbunden war mit Freude auf ein Wiedersehen, wo sich bei Ankunft in die Arme gefallen wurde und wo ein einfacher Zug all diese Menschen zusammengebracht und glücklich gemacht hat.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie Paul davon ging. Ich glaube er hatte erkannt, dass wir beide etwas gemeinsam haben, Erinnerungen an vergangene Zeiten, die unsere Seele berühren und zum Nachdenken anregen. Was zurück blieb war nur noch der Schnappschuss von Paul mit seiner Hündin Diana, wie er davon geht. Ich hatte keine Visitenkarte, keine Handynummer, ich hatte nichts von ihm – was ich habe ist eine wunderbare Geschichte und eine Begegnung, die mich sehr bereichert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob all seine Erzählungen auch wirklich wahr sind, was ich weiß, dass sie mir gefallen haben und dass ich dankbar bin dafür. Ich bin danach noch Laufen gewesen, habe meine 10 km am Strand absolviert und habe nichts von dem schönen Meer mitbekommen, weil meine Gedanken bei Paul waren.

Ich glaube nicht, dass Paul etwas erfahren wird, von dem was ich hier geschrieben habe, darum geht es auch nicht. Ich bin dankbar dafür, dass ich hier zur richtigen Zeit angehalten habe, zurück bleibt die Erinnerung an diesen Moment, an Paul, seine Geschichte und ein wundervolles Gebäude, an dem ein hässliches Schild „zu verkaufen“ prangert.

Nur ein Steinwurf entfernt befindet sich der neue Bahnhof, ein Gebäude mit einer grauen Fassade und eher unscheinbar. Die einzige Nostalgie, die es hier gibt, sind die Züge. Sie sind alt, ihre Fensterscheiben sind über die vielen Jahre durch die salzige Meeresluft erblindet, der Rost frisst sich gnadenlos durch das Metall und die Sitzbänke wirken verschlissen. Ein Zug bringt Menschen von A nach B und muss praktikabel sein. Wie schön wäre es trotzdem, wenn ein Zug an einem Bahnhof einfährt, der vor Glanz erstrahlt? Ich hoffe sehr, dass sich ein Investor findet, der dem alten Bahnhof seine Geschichte zurückgibt, der etwas Besonderes daraus macht, einen Ort voller Leben und Begegnungen, wie er einmal war.

Lost Places – lasst sie uns nicht vergessen und gebt ihnen eine Zukunft!

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